Hilfe! Mein Kind verhält sich geschlechtsuntypisch
Empfehlungen an die Eltern
Bei der Vielfalt der individuellen und sozialen Rahmenbedingungen in denen ein Kind aufwächst und sich entwickelt, ist es unmöglich allgemeingültige Verhaltensregeln zu geben. Jede Empfehlung und jedes Beispiel kann nur als exemplarischer Denkanstoß für die Handlungsmöglichkeiten von Eltern gesehen werden. Nur sie kennen ihr Kind und die Situation in der es interaktiv aufwächst und sich entwickelt.
Wenn ihr Kind sich zu seinem Geschlecht äußert, dann nehmen sie es ernst, auch wenn es erst zwei, drei oder vier Jahre ist. Gerade in diesem Alter sprechen die Kinder noch vorbehaltlos über ihre subjektiv erlebte und empfundene Wahrheit. Erst im Laufe der Zeit gewöhnen wir ihm ab zu sagen, was es selbst für gut und richtig erachtet. Es wird unsere Vorstellungen von gut oder schlecht, richtig oder falsch im Lauf seiner Entwicklung zunächst immer mehr übernehmen.
Wenn Ihr Kind seine Geschlechtsrolle nicht der biologischen Zuweisung entsprechend annimmt, dann üben Sie keinen Druck aus. Bieten Sie ihm spielerisch an, auch die zugewiesene Geschlechtsrolle auszuprobieren. Vielleicht findet es Gefallen daran und tut es. Wenn Ihr Kind transidentisch ist, dann wird es den Versuch früher oder später selbst wieder beenden, ohne dass Schaden entstanden ist.
Nehmen Sie rechtzeitig Partei für Ihr Kind, auch wenn es sich nicht gesellschaftskonform verhält. Vereinbaren Sie mit Ihrem Kind einfache Kompromisse, die Sie mit ihm gemeinsam tragen können, z.B. zum Schlafen darfst du ein Mädchennachthemd anziehen - wir kaufen die roten Lackschuhe, die du im Garten anziehen darfst. Zwingen Sie ein Mädchen nicht in Kleider, es ist nicht nötig. Schaffen Sie auch Spielzeug an, welches für das andere Geschlecht typisch ist. Machen Sie eine Aufgabenteilung. Papa spielt mit dir Eisenbahn und Fußball, Mama spielt mit Puppen und Kochen. Papa baut mit dir die Sandburg, Mama näht mit dir ein Kleid für die Puppe.Wichtig ist, dass es für das Kind spielerische Einladungen sind und nicht Zwang.
Tauschen Sie auch einmal die Zuweisungen, d.h. Mama spielt Fußball mit dir, Papa hilft beim Puppe anziehen. Beobachten Sie, wie Ihr Kind herausfindet was es will und wie es sich fühlt. Wichtig ist, dass es schon zu Hause erlebt, dass soziale Geschlechtsrollen austauschbar sind. Gehen Sie möglichst auch auf Wünsche des Kindes ein. Erklären Sie einfach und klar, warum Papa keine Kleider anzieht, Mama nicht im Stehen pinkeln kann. Drücken Sie sich nicht um einfache Antworten.
Wenn Ihr Kind in den Kindergarten geht und sich transidentisches Verhalten schon gezeigt hat, dann sprechen Sie mit den Erzieherinnen schon vorher darüber. Kinder können untereinander sehr grausam wirken. Die daraus entstehenden Grausamkeiten können Sie anderen Kindern nicht verbieten, Ihr eigenes Kind auch nicht davor schützen. Wenn aber das Verhalten Ihres Kindes nicht als etwas Besonderes herausgestellt wird, dann verliert sich für die anderen sehr schnell der Reiz zum Ausgrenzen oder Angreifen.
Klagt Ihr Kind über Angriffe oder Ausgrenzung, dann nehmen Sie es ernst und stehen ihm bei. Vermeiden Sie dabei aber nun ihrerseits Ausgrenzung. Die anderen Kinder sind anders, aber weder besser noch schlechter. Auch diese Kinder werden schnell ein Verhalten zeigen, bei dem Transidentität keine Rolle mehr spielt, es sei denn wir Erwachsenen ordnen Ihr eine besondere Bedeutung zu.
So wie es nicht den Mann oder die Frau gibt, so gibt es auch nicht den Transidenten. Ob Ihr Kind, auch wenn es transidentisch ist, später der biologischen Rollenzuweisung entsprechend leben kann oder nicht, kann in den meisten Fällen nicht vor Ende der Pubertät entschieden werden. Nur Ihr Kind selbst kann diese Entscheidung später treffen, wobei es dafür keine Altersgrenze gibt. Handelte es sich bei dem transidentischen Verhalten nur um ein soziales Rollenspiel Ihres Kindes, dann hat es dieses Spiel mit Sicherheit schon vor Beginn der Pubertät abgelegt oder selbst als Spiel erkannt.
Bemühen sie sich als Eltern, dass der Gesprächsfaden zwischen ihnen und ihrem Kind nicht abreißt. Das Kind muss die innere Gewissheit haben, dass es sich ihnen gegenüber wegen seiner Transidentität nicht zu schämen braucht. In diesem Fall besteht eine gute Chance, dass die Lösung des "Problems" nicht in Verstecken und Verdrängen liegt. Das Kind kann dann im Lauf seiner Entwicklung selbst Möglichkeiten und Wege finden mit seiner abweichenden Geschlechtsidentität zu leben. Geschlechtsanpassung ist zwar eine Lösung, mit Sicherheit aber nicht die einzige.
Druck erzeugt Gegendruck. Zu lernen damit umzugehen ist ein wichtiges Element in der Erziehung. Ein Kind kann daran wachsen, es kann aber auch daran zerbrechen. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der Gruppe der transidentischen Erwachsenen psychisch und sozial gescheiterte Existenzen ebenso überrepräsentiert sind wie hochleistungsfähige Personen.
Suchen und pflegen sie den Kontakt mit den "Experten", die ihr Kind in seiner Entwicklung begleiten werden. Kinderarzt, Erzieher und Lehrer werden kaum etwas von Transidentität wissen, außer den bekannten Allgemeinaussagen. Trotzdem sind sie ihre und ihres Kindes Partner auf seinem Weg ins Leben. Ergreifen sie für ihr Kind Partei und lassen sie weder sich noch ihr Kind zum "Spezialisten" abschieben. Es gibt mindestens zwei Gründe die dagegen sprechen:
Wir haben bisher in Deutschland keine Spezialisten für die Betreuung und Begleitung von transidentischen Kindern und ihrer Eltern.
Die Spezialisten für die Erziehung und Entwicklung ihres Kindes sind die Menschen in seiner Umgebung. Unter ihnen wächst es auf, von ihnen wird es in seinem Verhalten beeinflusst und geprägt.
Kinderarzt, Erzieher und Lehrer können sie unterstützen damit ihr Kind gesund aufwächst. Sie können mithelfen, dass ihr Kind eines Tages selbst erkennt ob es transidentisch ist oder sich nur so verhält. Sie können auch Partner des Kindes sein, bei seinen Versuchen Lebensperspektiven oder Zwischenlösungen zu finden. Wenn dann eines Tages für den herangewachsenen Menschen doch eine Geschlechtsanpassung notwendig sein wird, dann ist dies unter solchen Voraussetzungen kein dramatischer Einschnitt ins Leben, der neue Bedrohungen hervorrufen würde.
Januar 2000 © Helma Katrin Alter
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