Transgender und Zwänge
Referat bei den 6. Rheinischen Allgemeinen PSYCHOtherapietagen
Helma Katrin Alter; sinngemäße Textausgabe (Vortragsdauer 20 min)
Wenn wir uns dem Thema unter dem Leitmotto der diesjährigen Fortbildung nähern: "Bitte ganz ZWANG los!", dann begegnen wir im Leben von und im Umgang mit Transgendern Zwängen der verschiedensten Formen und Intensität. Oft werden gerade den Menschen, die Transgendern helfen wollen diese Zwänge gar nicht bewusst.
Da in der Ankündigung das Wort Transgender noch nicht auftaucht, wohl aber die Ergänzung "- ein medizinisches Konstrukt oder ein soziales Problem", stelle ich zunächst eine kurze Begriffserklärung voraus, die sicher unter der notwendigen Verkürzung nicht alle Fragen und Probleme klären kann.
Transgender muss als Sammelbegriff für alle Menschen verstanden werden, die nicht in eine starr polarisierte Vorgabe von Mann oder Frau passen, bzw. sich dort nicht wiederfinden können. In Ermangelung eines passenden deutschen Ausdrucks, denn Geschlechterrolle beschreibt das Problem nicht vollständig, ebenso greifen Sex und Identität auch nur einen Teilaspkt auf, wurde das Wort Gender aufgegriffen. Gender meint die geschlechtliche Denk-, Fühl- und Ausdrucksweise eines Menschen, nicht seine biologische. Trans darf nun seinerseits nicht nur im Sinne "von ... nach" verstanden werden, sondern auch im Sinne von "durchlässig (transparent)", im Sinne von "wandelbar" und im Sinne von "überschreitend". Transgender öffnet statt ab- oder auszugrenzen. Es verbindet nicht nur die Pole "richtiger Mann" und "richtige Frau" sondern umhüllt sie auch.
Alfred Schneider schreibt bereits 1977, also noch vor Einführung des TSG (Transsexuellengesetzes), in der Reihe "Rechtswissenschaft" über die Bedeutung des Geschlechts und der Geschlechtszugehörigkeit, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben in Deutschland bereits, dass das Thema ohne Berücksichtigung der medizinischen Grundlagen nicht bearbeitet werden kann (Europäische Hochschulschriften, ISBN 3 261 02110 7, Rechtsprobleme der Transsexualität). Erstaunlicherweise g eht er dabei dann davon aus, dass Transsexualität eine Form von Intersexualität sei, die sich eben nicht biologisch nachweisen lässt, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit hirnorganisch bedingt ist (so sein Text).
Unter dem Begriff Intersexualität wird jede Form der Abweichung von der Norm des biologischen Geschlechtes verstanden. Diese Abweichungen können entweder schon bei der Geburt festgestellt werden oder sie werden im Lauf der Entwicklung eines Kindes deutlich. Das Hauptproblem für betroffene Menschen und ihre Eltern ist dabei, dass jede Form der Abweichung einem "Krankheitsbild" zugeordnet wird und damit gleichzeitig suggeriert wird das Kind oder eben der Betroffene sei krank und Intersexualität sei heilbar. Natürlich können verschiedene "biologische Normabweichungen" auch zu Folgeschäden führen, wenn sie nicht behandelt werden. Die meisten Eingriffe bei intersexuellen Kindern werden aber nicht aus diesen Gründen gemacht, sondern mit dem Ziel dergeschlechtlichen Eindeutigkeit - jedenfalls eindeutig für das Umfeld.
In dem "Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen" spricht der Gesetzgeber zwar vom Zugehörigkeitsempfinden, das eindeutig der Identität zugeordnet werden muss, also Transidentität, verwendet dann aber immer wieder den Begriff Transsexualität, da er von der Medizin so eingeführt war. Die Aussage, die Schneider schon 1977 aufgegriffen hat, dass Transsexualität nur eine Sonderform der Intersexualität sei, scheint sich durch Forschungsergebnisse der Universität Amsterdam und aus Amerika zu bestätigen.
Unter einer TransFrau verstehen wir einen Menschen der männlich zugeordnet wurde, sich so aber nicht fühlt und das soziale Geschlecht weiblich annimmt. Dabei spielt es keine Rolle wie weit dies dieser Mensch tut, in welchen zeitlichen Abläufen und mit welchen medizinischen Hilfen. Die Angleichung kann bis zur vollständigen gesetzlichen Anerkennung gehen.
Diese Aussagen gelten unter umgekehrten Vorgaben natürlich auch für einen TransMann.
Wenn ich nun zunächst eine Aufzählung von Zwängen mache, die im Leben von Transgender eine Rolle spielen - zeitweise oder ständig, dann ist erst einmal gar nichts darüber gesagt
1. ob sie vermeidbar sind
2. ob sie in jedem Fall eine negative Auswirkung haben oder
3. ob sich die Beteiligten der Ausübung oder des Erleidens von Zwang bewusst sind.
Sofort nach der Geburt wird das Neugeborene Opfer des Zwangs zur Eindeutigkeit. Das Kind hat ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Seit der Einführung des BGB (bürgerliches Gesetzbuch) im Jahre 1873, und der damit verbundenen Einzelgesetze, hat der Staat die Wissenschaft, hier speziell die Mediziner, verpflichtet eine Entscheidung zu treffen, wenn der erste Blick zwischen die Beine des Kindes keinen eindeutigen Aufschluss über sein Geschlecht zulässt. Das Kind wird zum Objekt eines fremdbestimmten Handelns. Natürlich haben die Experten für ihre Entscheidung eine auf den ersten Blick plausible Erklärung: Bei fehlender körperlicher Eindeutigkeit könne sich das Kind ja nicht normal entwickeln, also muss rechtzeitig, bevor das Kind diesen "Mangel" erkennt, gehandelt werden. Diese Begründung unterstellt, dass die Basis der geschlechtlichen Identitätsentwicklung durch ein Spiegelbild veränderbar sei. Die Wurzeln der geschlechtlichen Denk-, Fühl- und Ausdrucksweise eines Menschen, seines Genders, sind jedoch schon vorgeburtlich gelegt und entwickeln sich nach der Geburt lediglich weiter. Das Baby, später Kleinkind, kann sie lediglich noch nicht zum Ausdruck bringen. Wenn es sich dann aber endlich äußern kann, und dies geschieht nicht im Sinne der Zuweisung, dann nehmen wir das Kind nicht ernst und fühlen uns verpflichtet es auf "seinen Fehler" hinzuweisen.
Eine chirurgische Anpassung an körperliche Normen ist immer nur eine protetische Versorgung unter Verwendung von mehr oder weniger körpereigenem Material. Dies gilt für die Wiederherstellungschirurgie, die Schönheitschirurgie und auch für Maßnahmen zur Schaffung geschlechtlicher Eindeutigkeit oder Anpassung an die sichtbaren Merkmale des Gegengeschlechtes. Sich darüber klar zu sein wird von einem großen Teil der Transgender ebenso zwanghaft verdrängt wie von vielen Experten.
Der Zwang sozialkonformes Verhalten zu erlernen steht unausgesprochen hinter den meisten Erziehungsbemühungen denen ein Kind in seiner Entwicklung ausgesetzt ist.
Besonders gravierend wird dies für Transgender wenn es um geschlechtsrollentypische Zwänge geht. Bei diesen Zwängen spielt es nun überhaupt keine Rolle mehr ob eine Intersexualität vorliegt, behandelt wurde oder nicht, eventuell einfach nicht erkannt wurde, oder ob bei eindeutiger biologischer Geschlechtlichkeit eine Transidentität vorliegt. Das Spiegelbild, das angeblich die Identitätsentwicklung erst möglich macht, versagt (und führt die Begründung für frühkindliche chirurgische Eingriffe bei Intersexuellen ad absurdum).
Transgender zwingen die Menschen in ihrem Umfeld, auch Ärzte und Psychologen, sich mit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit auseinander zu setzen und sich zu hinterfragen. Der Zwang zur Selbstkritik wird jedoch mit dem Gedanken "ich bin ja normal" einfach zur Seite geschoben.
Im Folgenden will ich nun versuchen in plakativer Form einen Überblick über Transgenderentwicklungen und ihre Folgen aufzuzeigen.
Transgender - Entwicklungsmodelle
Transgender kann weder anerzogen noch aberzogen werden.
Transgender ist nicht heilbar.
Transgender ist nicht ansteckend.
Die Ausprägung von Transgender liegt zwischen 0 % und 100 %. Beide Eckwerte kommen sehr selten vor. Bei einer Ausprägung von weniger als 75 % ist nur dann davon auszugehen, dass der betroffene Mensch dies für sich erkennt, wenn zusätzliche, belastende Faktoren in seiner Entwicklung oder Umwelt hinzu kommen.
Die rein biologische und soziale Entwicklung kann die vorhandene Ausprägung nicht verändern. Was verändert wird ist die inner Einstellung dazu, bzw. das Bewusstsein darüber.
Das soziale Umfeld, die Art der Erzeihung und die Einstellung der Menschen im Umfeld des Transgender zur "Normalität" des Menschen spielen dabei eine große Rolle.
In Folge davon kommt es (einzeln oder in Kombination) - zur völligen Ablehnung des zugewiesenen Geschlechts- zur Überziehung des zugewiesenen Geschlechts- zur Entwicklungshemmung, bis zur Verweigerung- zur Überbetonung sozial erwünschter Verhaltensweisen- zur Verneinung der eigenen Person- ...vielfach kommt es zur Flucht in Süchte wie:- Fresssucht oder Magersucht- Alkoholismus- Workaholismus- Drogensucht- ...Transgender "Kariere"
Die folgende Darstellung zeigt für die beiden Stufen - erkennen - annehmen - jeweils zwei unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Selbsterkenntnis auf.
Entwicklungschancen für Transgender
Die folgende Grafik bezieht sich auf meine Erfahrungen aus der eigenen Beratungspraxis (ca. 400 persönlich betreute Fälle von 1996-2000 und weiteren ca 300 telefonisch und schriftlich betreuten Fällen, in denen ich entsprechende Informationen erlangte - diese Fälle sind auch die Basis der Altersgruppenverteilung).
Je nach dem Grad der Ausprägung von Transgender, im Wechselspiel mit der Erziehung und den Erfahrungen mit der Umwelt, kommt es zu altersuntypischen Verhaltensweisen, Lernverhinderung oder Übermotivation, Entwicklungshemmung, Überanpassung oder ... Aus diesen Situationen heraus entstehen die Voraussetzungen für eine insgesamt positive oder negative Sozialisierung und entsprechende Position, was immer man darunter wissenschaftlich genau definiert auch verstehen möge. Die beiden folgenden Grafiken zeigen einmal den Vergleich zwischen der Verteilung sozialer Positionen von Transgender und "normalos", zum zweiten die Verteilung innerhalb der Transgender zwischen TransFrauen und TransMännern (ich erinnere daran, dass das Zielgeschlecht genannt ist, unabhängig davon ob es bereits gelebt wird oder nicht).
Die Entwicklungschancen verändern sich aber, wenn sich die Einstellung der Bevölkerung zu diesen Menschen ändert, vor allem aber auch die Einstellung von Ärzten und Psychologen, die meist die Ersten sind, die mit der Problematik des Einzelnen konfrontiert werden (könnten). Ich habe "könnten" deshalb in Klammer gesetzt, weil gerade im Frühstadium des Erkennens von Transgender, dies so nicht wahrgenommen wird und es oft zur Verwechslung von Ursache und Wirkung kommt.
Das Thema TransFrauen und TransMänner wurde in den letzten Jahren sehr viel von den Medien aufgegriffen. Ohne hier die Qualität zu burteilen muss in jedem Fall festgestellt werden, dass die Betroffenen dadurch zumindest davon erfahren, dass nicht nur sie, sondern auch andere Menschen so fühlen und denken.
Das Problem der Intersexualität wird dagegen weitgehend ignoriert. Die Vorstellung der Machbarkeit, zum Erreichen von eindeutiger Zuweisung im Sinne der geschlechtlichen Polarisierung, das Verschweigen gegenüber dem Umfeld und den Betroffenen, und die Vorstellung, durch Angleichung wäre Heilung möglich, herrschen leider immer noch vor. So werden auch in Deutschland nach wie vor Kinder genital verstümmelt um ein eindeutiges Aussehen zu erreichen. Gerade im Bereich der Intersexuellen muss die Diskussion umgehend aus der Abgeschlossenheit von Expertendiskussionen heraus geholt werden.
Auf dem Hintergrund dieser Betrachtungen ist es interessant zu verfolgen, wie sich die Zahlen über betroffenen Menschen in den letzten Jahren entwickelt haben, vor allem auch im Verhältnis "TransMann zu TransFrau". Über Intersexualität werden die Zahlen weiter unter Verschluss gehalten, so dass hier nur auf dem Umweg über international zugängliche Quellen auf deutsche Verhältnisse hochgerechnet werden kann.
Häufigkeit des Auftretens von Transgender
Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung seit der Verabschiedung des Transsexuellengesetzes.
Jahr | Anzahl |
TransMann : TransFrau
|
1980 | ca. 3.000 = 0.005% = Ausgangslage bei Einführung des TSG |
1 : 10
|
1985 | ca. 6.000 = 0,01% = erste revidierte Zahl der Experten |
1 : 7
|
1990 | ca. 8.000 = 0,01% = revidierte Zahlen nach der Wiedervereinigung |
1 : 7
|
1995 | ca. 6.000 - 8.000 =veröffentlicht nach Int. Kongress in Deutschland |
1 : 5
|
1995 | ca. 160.000 = 0,2% = Hochrechnung niederländischer Forschungsergebnisse durch Transidentitas e.V. |
1 : 3
|
2000 | ca. 8.000 = 0.01% = Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin |
1 : 3
|
2000 | ca. 80.000 = 0,1% = Zahl der "Behandlungsbedürftigen" nach Erfahrungen und Hochrechnung durch die dgti - Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. |
1 : 2 --> 1: 1
|
Gerade bei der Betrachtung der Angaben über die Verteilung zwischen TransMännern und TransFrauen wird deutlich, dass Transgender mehr ein soziales Konstrukt ist, als ein medizinisches. Als weiterer Belge dafür kann durchaus gefunden werden, wenn man sich die Aufteilung in Altersgruppen, getrennt nach TransMännern und TransFrauen betrachtet (ich erinnere, es ist das "Zielgeschlecht" genannt).
Verteilung von Transgender nach Altersgruppen
Die folgende Übersich basiert vor allem auf dem Zahlenmaterial, was sich im Laufe von 1995 bis 2000 in der heutigen Beratungsstelle NRW der dgti angesammelt hat. Erfasst wurde jeder "Fall" der Erstberatung; ca. 300 Fälle in der Beratungsstelle, ca. 200 Fälle mit schriftlicher Erstberatung und ca. 150 Fälle der telefonischen Beratung (von über 3.500 Anrufen im Berichtszeitraum), die statistisch als Erstberatung erfassbar waren.
Bewusst wurden vorliegende Zahlen von Transgender bei Kindern nicht aufgenommen. Bekannt werden mir solche Fälle weil Jugendämter Kontakt aufnehmen, Kinder - und/oder Schulpsychologen, in den seltensten Fällen die Eltern. Transgender bei Kindern wird in Deutschland bisher verneint, bzw. es wird verneint, dass man mit ihnen erfolgreich arbeiten könne. Die positiven Erfahrungen aus Ütrecht widerlegen zwar diese Auffassung, werden aber in der deutschen Praxis ignoriert. So ist es kaum verwunderlich, dass über Transgender bei Kindern in Expertenkreisen nur hinter "vorgehaltener Hand" gesprochen wird, weder Eltern noch Schule oder Kinderarzt von der Möglichkeit weiß, dass Kindern sehr viel Leid erspart werden könnte, wenn man sie auch in ihren Äußerungen zum eigenen Geschlecht ernst nehmen würde.
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang auf das Kapitel "Eltern und Kinder" in meinem Sachbuch hinzuweisen (Gleiche Chancen für alle - Transidentität in Deutschland 1998/1999, ISBN: 3-89811-043-5).
© Helma Katrin Alter (2000)